*PERSPEKTIVEN EINER RADIKAL KONSTRUKTIVISTISCHEN PSYCHOLOGIE*

 

aus:
Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

 

In diesem die Arbeit abschließenden Abschnitt soll keine bloß wiederholende Zusammenfassung der durchgeführten Analysen gegeben werden, vielmehr wird darauf aufbauend der Versuch unternommen, in knapper Form einige jener Perspektiven aufzuzeigen, die sich aus dem konsequenten Verfolgen eines radikal konstruktivistischen Ansatzes für die Psychologie ergeben. Zu Beginn wird zunächst eine epistemologische Einordnung der (Gegenstands)Perspektive der radikal konstruktivistischen Psychologie versucht werden, wobei zu zeigen ist, daß die Diskussion eines wissenschaftsbegründenden Paradigmas für die Psychologie eher nicht in den traditionell üblichen Kategorien oder Schemata möglich ist, wenn man sowohl den Gegenstand der Wissenschaft, also den Menschen, und die Wissenschaft selber, also die Wissenschaftler, in gleicher Weise in den Blick nimmt.

Paradigmatische Einordnung einer radikal konstruktivistischen Psychologie

Wie in dieser Arbeit immer wieder betont wurde, spielen Modelle und Metaphern auch auf der Ebene der Paradigmen eine wichtige Rolle. Modelle und Metaphern werden dabei meist "unbewußt" verwendet, d.h., ihre "Benützer" vergessen den ursprünglichen Kontext bzw. dieser ist für sie nicht mehr nachvollziehbar oder (re)konstruierbar. Allerdings bestimmen letztlich solche Metaphern die Fragestellungen bzw. die Auswahl der Methoden und damit weitgehend auch die Antworten. Während "explizit" häufig von einem Methodenpluralismus in der Psychologie die Rede ist, existiert auf der paradigmatischen Ebene eine weitgehend "implizite" Einigkeit innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie. Diese Einigkeit wurde ganz allgemein als "Paradigma des Machbaren" umschrieben bzw. im besonderen als Ausfluß eines deterministisch-mechanistischen Bildes des Menschen gekennzeichnet.

Diesem traditionellen Ansatz wurde das "Paradigma des Machenswerten" gegenübergestellt, wobei dieses in vielen Aspekten - insbesondere auch aufgrund der historischen Wurzeln - als organismisches bezeichnet werden könnte. Wie bei allen Dichotomien (auch das ist eine Metapher!) sind solche Gegenüberstellungen von Positionen problematisch, denn es kommt zu darstellungsbedingten Überzeichnungen (oder besser: "Überwortungen") der jeweiligen Standpunkte. Ein Gutteil der in dieser Arbeit immer wieder angesprochenen Krisendiskussionen in der Psychologie und in verwandten Wissenschaften kann auf solche simplifizierenden Überzeichnungen - insbesondere der jeweiligen Gegenposition - zurückgeführt werden. Überzeichnungen sind sicherlich auch in dieser Arbeit enthalten, wobei aufgrund der Position des Autors vermutlich eher das traditionelle Paradigma das "Opfer" war. Allerdings wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß auch Paradigmen letztlich nichts anderes als Metaphern sind, also Worthülsen, die ohne "Füllung" nur aus einem Rand bestehen, der ohne Inhalt funktions- und somit "bedeutungslos" ist. Hier soll im Anschluß an Überlegungen WIDDERSHOVENs (1988) noch einmal eine kurze zusammenfassende Gegenüberstellung der Paradigmen vorgenommen werden, wobei der Bezug auf den Gegenstand der Psychologie, also den Menschen, und auch der Bezug auf den wissenschaftlich Handelnden gleichzeitig im Auge behalten werden soll.

Mechanistisches versus organismisches Paradigma?

Das mechanistische Paradigma betrachtet den Menschen als einen Mechanismus, der sich nach mehr oder minder natürlichen Gesetzen verhält. Es ist charakteristisch für diesen Ansatz, daß die Teile einer solchen allopoietischen "Maschine" im wesentlichen unabhängig voneinander beschrieben und erklärt werden können. Das Verhalten einzelner Elemente wird kausal mit anderen (in der Regel früheren) unabhängigen Elementen verknüpft, wobei auch ihre weitgehende Unabhängigkeit postuliert wird. Es wird versucht, elementare Prozesse und Phänomene aufzuspüren, wobei diese etwa in genetischen oder externen Faktoren lokalisiert werden.

Kennzeichnend für diesen Ansatz ist auch die implizite Annahme, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen zeitigen. Wie in dieser Arbeit dargelegt wurde, ist das deduktiv-nomologische Modell der Erklärung und Prognose jener Mechanismus, der den wissenschaftlichen Fortschritt antreibt und in Gang hält. Dieser Mechanismus verspricht genaue Vorhersagbarkeit, welche letztlich das zentrale Kriterium und den letzten Rechtfertigungsgrund für wissenschaftliches Handeln unter diesem Paradigma darstellt. Wie aber in dieser Arbeit immer wieder aufgezeigt wurde, ist der Mensch bzw. das, was den Menschen ausmacht, mithilfe dieses Paradigmas nicht in seiner Ganzheit in den gewünschten wissenschaftlichen (Be)Griff zu bekommen, denn psychologische Vorhersagen sind in der Regel unsicher. Das wurde zum großen Teil darauf zurückgeführt, daß eine "mechanistische" Psychologie ihren Gegenstand, den Menschen bzw. das "Objekt" Subjekt, notwendigerweise aus den Augen verliert. Der Gegenstand "Mensch" wird also letztlich nicht als "human" betrachtet, woraus sich für den am Menschen interessierten Wissenschaftler ein wohl unlösbares Dilemma ergibt.

Das mechanistische Paradigma

Das organismische Paradigma hingegen betrachtet den Menschen als biologischen Organismus mit einer bestimmten Struktur (System) bzw. Organisation. Nicht Gründe sind für die Beschreibung und Erklärung des Verhaltens relevant, sondern Ziele, die folgerichtig in ein letztes Ziel (etwa das Überleben des Organismus, der Art oder des Lebens überhaupt) übergeführt werden können. Die Teile eines Organismus - strenggenommen ist dieser Begriff unter einem solchen Modell unzulässig - haben Funktionen in bezug auf das jeweilige Ziel. Dieser Ansatz ist daher konsequenterweise logisch-strukturell auch ein ganzheitlicher. Im Gegensatz zum deduktiv-nomologischen Mechanismus der Wissenschaften gibt es auch keine fundamentale Logik zur vollständigen Prognostizierbarkeit des Verhaltens des Gegenstandes, vielmehr wird das für den mechanistischen Ansatz typische Denkmuster "eine Ursache - eine Wirkung" in der teleologisch bedingten Vielfalt eines "viele Wege führen zum Ziel" aufgehoben. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht das Subjekt bzw. seine Subjektivität. Daraus ergibt sich auch zwangsläufig, daß Erklärungen meist auf systeminterne Faktoren rekurrieren, wobei für die Psychologie die geringere empirische Zugänglichkeit zu solchen Phänomenen jene vergleichbare unsicherheitsbestimmende Größe ist, wie es die niemals vollständig zu erfassenden externen Faktoren im mechanistischen Paradigma sind. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt wird als Prozeß betrachtet, der Mensch selber als aktiv sich anpassendes Wesen vorgestellt. Dieses Paradigma läßt sich daher in letzter Konsequenz - wie ebenfalls in dieser Arbeit aufgezeigt wurde - nicht mit dem traditionellen Wissenschaftsbegriff vereinbaren, bzw. es ist zu fragen, ob ein solcher dann überhaupt noch sinnvoll aufrechtzuerhalten ist.

Die Paradigmenkrise bzw. deren traditionelle Diskussion in der Psychologie erschöpft sich - trotz mancher Ausnahmen - im wesentlichen in dieser Dichotomie, obwohl es in der Philosophie der Humanwissenschaften auch immer wieder andere - oft beide Standpunkte integrierende - Ansätze gegeben hat. Allerdings wurden auch diese im Verlaufe der "Auseinandersetzungen" immer mehr in Richtung auf einen dieser Pole hinstilisiert oder gedrängt.

Das in dieser Arbeit vertretene und im Gegensatz zum traditionellen Ansatz dargestellte Paradigma des Machenswerten könnte auf den ersten Blick in Richtung auf ein "rein" organismisches Modell hin interpretiert werden. Allerdings gibt es zahlreiche Merkmale des Radikalen Konstruktivismus, die sich meines Erachtens nicht so ohne weiteres einem solchen Versuch "fügen". Es soll hier nicht diskutiert werden, ob der biologistische Zweig des Radikalen Konstruktivismus nicht vielleicht doch in eine der epistemologischen "Ecken" abgeschoben werden kann und schlußendlich wieder in eine der beiden "Fallen" hineinfällt. Daß sich der hier vertretene Ansatz für die Psychologie nicht so leicht einordnen läßt, hängt in erster Linie mit der Tatsache zusammen, daß der Radikale Konstruktivismus in dieser Arbeit immer wieder und im wesentlichen ausschließlich im Hinblick auf den genuinen Gegenstand der Psychologie betrachtet wurde. Es soll daher im folgenden nicht eine dichotome, sondern eine erweiterte mögliche Perspektive aufgezeigt werden, in die sich unser Ansatz einer radikal konstruktivistischen Psychologie besser einordnen läßt.

Das organismische Paradigma

WIDDERSHOVEN (1988) entwickelt für die (Entwicklungs)Psychologie im Anschluß an RICŒUR (1971) und MACINTYRE (1981) ein narratives Modell bzw. Paradigma, das er den beiden besprochenen Ansätzen gegenüberstellt. In diesem Modell wird menschliches Verhalten in Analogie zu einer Erzählung bzw. zum Erzählen einer Geschichte betrachtet. "Actions and thoughts which form a part of human life are regarded as belonging to a history" (WIDDERSHOVEN 1988, S. 131). Die Metapher der Erzählung unterscheidet sich grundlegend vom mechanistischen oder organismischen Modell, denn Erzählungen zeigen kein Verhalten wie Maschinen oder Organismen. Zwar sind die Teile einer Erzählung wie die Teile eines Organismus intern miteinander und untrennbar mit der Gesamtheit der Erzählung verbunden, allerdings sind diese Relationen nicht bloß funktional, sondern hängen mit der jeweiligen "Bedeutung im Gesamtkontext" zusammen. "Different passages contribute to the meaning of the story and derive their meaning from the whole. The structure of a story, the way in which the elements are interelated and refer to one another, is not dominated by the need to survive, like it is in the organismic model. The structure of a story is such that it integrates the different parts into a meaningful whole" (WIDDERSHOVEN 1988, S. 131). Daher ist es epistemologisch sinnlos, in einer Erzählung nach einem Grund für ein Verhalten oder einer alleingültigen Funktion zu fragen, vielmehr ist die Frage immer, welche Bedeutung ein Mensch seinem Verhalten im Hinblick auf sein individuales Leben gibt. Zwar wird im narrativen Paradigma Verhalten auch immer unter dem Gesichtspunkt der Rationalität zu betrachten sein, doch impliziert ein solcher Ansatz stets nur die Möglichkeit einer Rechtfertigung, niemals aber die Notwendigkeit. Damit erhält die in dieser Arbeit immer wieder betonte Subjektivität, Irrationalität und letztlich auch Freiheit menschlichen Handelns einen - zunächst für den Einzelnen! - festen erkenntnistheoretischen Standpunkt, der gleichzeitig auch die Grenzen des wissenschaftlich Machbaren aufzeigt: daß prinzipiell alles machbar ist - und nach dem Machenswerten fragen läßt, wobei das vermutlich die einzige "wahre" Frage ist!.

In diesem Ansatz ist das Konkrete nicht als Gegensatz zum Allgemeinen konzipiert, sondern wird als mögliche Inkarnation eines allgemeinen Prinzips betrachtet. Erst die Interpretation durch ein Subjekt macht die Bedeutung des Allgemeinen für das Besondere sichtbar (vgl. WIDDERSHOVEN 1988). Da jede Interpretation nur auf dem Hintergrund der Erfahrungen eines konkreten Subjektes stattfinden kann, muß das "erzählende" Subjekt bzw. dessen individuelle (Lern)Geschichte in die Beurteilung des jeweils Erzählten einfließen bzw. darf nicht außerachtgelassen werden. Alles Gesagte ist von jemandem gesagt, ist eine der zentralen Prämissen des Radikalen Konstruktivismus. Somit wird man bei diesem paradigmatischen Modell grundsätzlich auf die Dimensionen des Sozialen und der Historizität verwiesen, denn das Verständnis von Erfahrungen eines anderen Subjektes setzt vergleichbare (gemeinsame) und somit gleichwertige Erfahrungen voraus. Wenn Löwen sprechen könnten, dann würden wir sie nicht verstehen, sagt WITTGENSTEIN in seinen "Philosophischen Untersuchungen". Historizität setzt demnach bei der Betrachtung des Menschen ein soziales Moment voraus, denn Erfahrungen bzw. ihr Austausch zwischen Menschen sind an gemeinsames Erleben und Kommunikation gebunden. Dieser dritte paradigmatische Ansatz - verwandt der schon zitierten Sprachspiel-Metapher WITTGENSTEINs oder dem Bild des interpretativen Zirkels DILTHEYs - berücksichtigt einerseits explizit die immer wieder vehement postulierte Individualität und Einmaligkeit des Menschen, andererseits vermeidet er die Gefahr des Solipsismus insofern, als jede Erzählung nur aus einem gemeinsamen sozialen Kontext eines Erzählers wie auch des "Erzählten" Bedeutung erlangen kann. Daher ist die Betonung der subjekthaften Bedeutung ein wesentliches Merkmal, das der hier vertretene radikal konstruktivistische Ansatz mit dem narrativen Modell gemeinsam hat.

Das narrative Paradigma

Gleichzeitig enthält ein als "narrativ" gekennzeichneter Ansatz aber auch die Gefahr, wie im traditionellen wissenschaftlichen Paradigma, dem Medium der Sprache - im weitesten Sinne gefaßt, also auch logische Sprachen umfassend! - ein zu großes Gewicht beizumessen. Gerade auf diese Gefahr für die Psychologie als Wissenschaft wurde in dieser Arbeit wiederholt hingewiesen. Es besteht schon aufgrund der Bezeichnung "narrativ" das Problem, vorwiegend kognitiv-sprachliche Phänomene in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Bemühungen zu stellen bzw. bei der Argumentation von ihrer Dominanz auszugehen. Das ist im Zusammenhang mit der Psychologie sicherlich gefährlich und einseitig. LANG (1981, S. 164) weist darauf hin, daß die Kognitive Psychologie, die sich ausschließlich auf Kognitionen ihres Explanandums bezieht bzw. auf Aussagen ihrer Subjekte abstellt (m.E. wird in den letzten Jahrzehnten aufgrund des exzessiven Einsatzes von Fragebögen bei psychologischen Untersuchungen nur mehr "Meinungsforschung" betrieben), notwendigerweise zu Zirkelschlüssen kommt, "weil ja das Handeln des Individuums auf der Grundlage seiner eigenen Kognitionen, die nur auf dem Wege über Handlungen desselben Individuums zugänglich sind, erklärt werden soll. Es ist also nie auszuschließen, dass das Handeln, welches die Kognitionen aufschließt, einfach eine weitere Komponente des zu erklärenden Handelns darstellt". Auch eine ökologische Variante einer Kognitiven Psychologie, wie sie etwa LEWIN oder BRONFENBRENNER vertreten, kann diesem Zirkel nicht entkommen, denn der "Lebensraum" ist und bleibt Bestandteil des Individuums selbst (vgl. LANG 1981, S. 165). Dieser Gesichtspunkt wurde u.a. unter der Analytizitätsproblematik eingehend abgehandelt.

Ich meine daher, daß "narrativ" eher im Sinne von Märchen bzw. Märchenerzählen vorzustellen ist, denn dann kommt man dem hier vertretenen Ansatz einer radikal konstruktivistischen Psychologie vermutlich am nächsten. Die sprachlichen Komponenten von Märchen haben für Kinder zwar sicherlich einen hohen Stellenwert für ihre sprachlich-kognitive Entwicklung, doch sind diese auch und im besonderen im Hinblick auf ihre emotionalen und evaluativen Komponenten wesentlich. Für Kinder sind erzählte Märchen sozial vermittelter Bezug zu einer Umwelt, die sie kognitiv und auch emotional (noch bzw. vermutlich) nicht direkt "begreifen" können. In Märchen wird die Metapher als bewußt verwendetes Hilfsmittel eingesetzt, um den Zugang zur "Realität" zu erleichtern. Auch die Dimensionen der Historizität und kulturellen Eingebettetheit sind hier deutlich sichtbar.

Das Märchen als paradigmatische Metapher für den Gegenstand einer radikal konstruktivistischen Psychologie

Für Kinder besteht die Welt aus einer Totalität von Bedeutungen, der Dialog mit der Welt findet aktiv und handelnd statt. WIDDERSHOVEN (1988, S. 133) weist im Anschluß an MERLEAU-PONTY darauf hin, daß PIAGETs Interpretation des Egozentrismus des Kindes auf der falschen Voraussetzung beruht, daß Kinder nicht ursprünglich offen für diese Welt wären. "According to Piaget the child's cognitive development shows a decline of egocentrism and a growth of the ability to combine different perspectives in order to reach an objective view of reality. Merleau-Ponty objects to a restricted view of egocentrism which he attributes to Piaget. He underlines that the so-called egocentrism doesn't imply that the child isn't open to reality. Its is, on the contrary, an indication of the child's involvement in the world (Merleau-Ponty, 1964, p. 176ff.). The child's behavior isn't merely subjective. The child is oriented towards others, as he is situated in a common world. Development does not run from subjectivity to intersubjectivity through objectivity. Intersubjectivity is present from the beginning" (WIDDERSHOVEN 1988, S. 133). Diese Überlegungen decken sich mit unserer konstruktivistischen Interpretation des Entwicklungsaspektes der Ressourcentheorie. Für das Kind ist sein Leben ursprünglich und eins mit der "Umwelt", die es in einem mühevollen Sozialisations- und Lernprozeß erst als von sich verschieden "konstruieren" muß. Das Kind muß erst die - historisch betrachtet vermutlich auch (natur)wissenschaftlich "indoktrinierte" - Trennung von Ich und Umwelt erlernen, um schließlich akzeptiert zu werden.

Wie Untersuchungen und Gedanken von KAUFMANN-HAYOZ (1988) zeigen, sind etwa die in der Entwicklungspsychologie bis heute vertretene These vom Primat der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung (gegenüber der visuellen und auditiven) oder auch die allgemein akzeptierte Behauptung, die einzelnen Sinnessysteme seien beim Neugeborenen noch nicht miteinander koordiniert, nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß ursprünglich beim Neugeborenen eine Einheit der Sinne besteht, die dem aktiven, multimodalen Erkunden der Welt vorangeht, aber nicht eine Folge davon ist. Strukturell verweisen diese Annahmen darauf, daß für das Phänomen Leben "Wissensproduktion" grundsätzlich ein einheitliches Prinzip darstellt, das phylo- und ontogenetisch zwar im Zuge einer Spezialisierung "aufgeteilt" wurde, aber letztlich durch ihren Bezug auf das Ganze eines Individuums immer einen "Rest" ihrer integrativen Funktion eines ganzheitlichen Erkenntnisgewinnens behalten.

OESER & SEITELBERGER (1988, S. 154ff) weisen unter dem Aspekt des "Informationswechsels" (TEMBROCK) - als Gegenstück zum "Stoff-" oder "Energiewechsel" - darauf hin, daß Informationen ohne Bewertung "sinnlos" sind, da ein chemischer oder energetischer Vorgang "an sich" keinerlei Informationen trägt. Diese "Bewertung" hatte bei Lebewesen ursprünglich eine Einheit gebildet (vermutlich ist sie letztlich auch konstitutiv für "Leben" im weitesten Sinne), wurde jedoch im Verlauf der Evolution (parallel zur Entwicklung eines zentralen Nervensystems) in zwei Aspekte aufgespalten: in einen semantischen und in einen pragmatischen. Nichtsdestoweniger bleiben beide Aspekte immer aufeinander bezogen und bilden als stabilisierende Strukturen die Grundlage für die Entstehung des intentionalen Bewußtseins. Dabei ist die Evolution des Bewußtseins eher eine der "Bewußtseinsmöglichkeit" bzw. "-fähigkeit", die als eine wesentliche Bedingung für die die Entstehung eines transsubjektiven Bewußtseins zu gelten hat. Diese Interpretation bildet nach Meinung der beiden Autoren eine plausible Grundlage für eine mögliche Erklärung der Entstehung kognitiver Funktionen, wie sie dann für höhere Lebewesen typisch sind. Erst dadurch wird die Flexibilität und Freiheit bei der (Re)Konstruktion der Umwelt möglich, denn dann sind Bedeutungsbelegungen von Umweltereignissen nicht ausschließlich deterministisch, sondern auch vom jeweiligen internen Zustand des Individuums abhängig.

Es ist sicherlich nicht übertrieben, von diesem Prozeß eine Parallele auch zur Wissenschaftsentwicklung - im Sinne von Wissensentwicklung der Menschheit und der Kulturen - zu ziehen. Wenn OESER & SEITELBERGER (1988, S. 152) in Analogie zu einem individualen "psychogenetischen Rekapitulationsgesetz" (vgl. OESER 1987) von einem "epistemogenetischen Rekapitulationsgesetz" sprechen, dann könnte man auch ein "-logogenetisches" postulieren (das unvollständige Kunstwort "-logo" verweist auch darauf, daß es in der griechischen Tradition kein eigenes Wort für Wissenschaft im heutigen Sinne gibt), wobei ein solches "Gesetz" natürlich nur als grobe Metapher akzeptabel ist. Dieses "Bild" weist dann eine große Ähnlichkeit mit dem entwicklungspsychologischen Modell der Entwicklung der kognitiven Funktionen beim Kind auf, welche PIAGET ja auch immer explizit zur Entwicklung wissenschaftlichen Denkens in Beziehung gesetzt hat. "Child development as a whole can be interpreted as a development of intersubjectivity, resulting in new ways of meaning-making" (WIDDERSHOVEN 1988, S. 134). Diese zu sozialisierenden und internalisierenden Bedeutungen - mit dem Ziel des sozialen Überlebens - sind stets Ausfluß des sozialen und kulturellen Kontextes, in dem ein Individuum "lebt". Die Unterwerfung unter bestimmte Rituale, d.h., die Anerkennung der jeweils akzeptierten Normen, Werte bzw. deren intrakulturellen Metaphern machen das Kind erst zum Menschen. Ein Gleiches gilt vermutlich auch für das Verhältnis des Wissenschaftlers zu der in dieser Arbeit so häufig angesprochenen scientific community.

Der "Monismus" der "Bedeutung"

Wenn man versucht, das in dieser Arbeit vertretene radikal konstruktivistische Paradigma nicht bloß in einer verkürzenden Dichotomie von mechanistischem und organismischem Modell zu betrachten, sondern auch das narrative Modell als gleichwertige Möglichkeit heranzuziehen, dann ließe sich unser Modell eher zwischen narrativem und organismischem ansiedeln als zwischen mechanistischem und organismischem (siehe Abbildung 21).

Diese perspektivische Einordnung einer radikal konstruktivistischen Psychologie ermöglicht m.E. auch eine Einordnung der älteren und neueren Krisendiskussionen bzw. der permanenten Abgrenzungsproblematik des wissenschaftlichen Gegenstandes der Psychologie. Während in den Anfängen der Psychologie als Wissenschaft eher eine Perspektive zur Diskussion stand, die einem radikal konstruktivistischen Ansatz verwandt ist, entwickelte sich im Zuge der Rezeption des Behaviorismus eher eine prinzipielle Wissenschaftlichkeitsdiskussion, die zwischen organismischem und mechanistischem Modell eingeordnet werden kann. Die kognitive Wende hingegen verlagerte den Diskurs eher zwischen die Pole mechanistisch und narrativ. Die hier angestrebte paradigmatische Grundlegung kehrt gewissermaßen zu den Anfängen zurück.

Wenn diese hier zirkuläre Interpretation der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychologie auch stark verkürzend ist, so vermeidet sie m.E. im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Wissenschaftlichkeitsanspruches unserer Wissenschaft doch den heute so oft geäußerten Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit. Des weiteren stellt dieses Modell der Einordnung der Wissenschaft und des Gegenstandes auch eine "Selbstanwendung" des zugrundeliegenden Paradigmas dar, die von einer reflexiven Psychologie im strengen Sinne zu fordern ist. Darauf ist schon an anderer Stelle eingegangen worden.

 


Abbildung 21
Standpunkt und Perspektive einer radikal konstruktivistischen Psychologie auf ihren Gegenstand

Einordnung einer radikal konstruktivistischen Psychologie

Eine solche "zirkuläre" Einordnung vermeidet konstruktiv die Gefahr, sich dem Vorwurf einer - in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund tretenden Tendenz zu einer allgemeinen und speziellen - Wissenschaftsfeindlichkeit auszusetzen. OESER (1983) weist darauf hin, daß sich aufgrund eines oft irrationalen Unbehagens am Fortschritt der Wissenschaften bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine Enttäuschung breitgemacht hat, die sich bis zu einer heute ganz offen geäußerten allgemeinen Wissenschaftsfeindlichkeit gesteigert hat. Die gigantische Beschleunigung und Perfektionierung der wissenschaftlichen Methoden überfordert die menschlichen Verarbeitungskapazitäten bei weitem, wobei die heutige wissenschaftliche Entwicklung vor allem durch sophistizierte axiomatische-deduktive Theorien besticht, die sich aber weitgehend in einem eleganten analytischen Formalismus erschöpfen. In letzter Konsequenz werden die aufgefundenen "Naturgesetze", "wie Einstein sagt, 'zu freien Schöpfungen des menschlichen Geistes', die bereits weitab vom Boden der Erfahrung durch einen Sprung an die Spitze der Axiome erreicht werden. Während jedoch Einstein noch betonte, daß dieser Freiheit des menschlichen Geistes eine um so strengere logische wie empirische Überprüfung gegenübersteht, hat sich diese Methode zu einem in sich selbst kreisenden Mechanismus entwickelt, der mit ständig sich erhöhender Geschwindigkeit Hypothesen produziert, deren Wahrheitswert ungeklärt bleibt, weil sie sich oft nicht mehr bis zum Boden der Erfahrung zurückverfolgen lassen" (OESER 1983, S. 48). Diese Entwicklung - skizziert für genuin naturwissenschaftliche Forschungsbereiche - wirkt sich natürlich in Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften noch viel gravierender aus, denn hier ist von vornherein ein viel geringerer Bezug zu dem gegeben, was man ganz allgemein als "Natur" umschreiben kann. Wie unsere obige Einordnung zeigt, ist die Perspektive der Psychologie auf ihren Gegenstand auch auf die Auseinandersetzung mit konstruktiv-interpretativen, d.h., bedeutungsschaffenden Phänomenen angewiesen.

Die erwähnte Erhöhung des wissenschaftlichen Entwicklungstempos führt nach OESER (1983) zu einem Involutions- bzw. Degenerationsphänomen, wobei die Annahme der Parallelität zwischen sozialem und kognitivem Fortschritt heute wohl aufgegeben werden muß. Und: "An diesem Punkt beginnt der mystische Irrationalismus zu blühen, der seit jeher Kennzeichen verfallender Gesellschaften war. Und die alte, immer wiederkehrende morbide Sehnsucht nach 'Untergängen' der Menschheit, des Abendlandes, der Wissenschaft und so weiter taucht wieder auf, die jedoch nichts anderes ist, als die Verzweiflung des in der Masse immer mehr zu kurz kommenden Individuums, das seinen eigenen geistigen und leiblichen Tod auf die kollektive Vernunft zu projizieren versucht" (OESER 1983, S. 49). Sehr ähnlich argumentiert auch HEER (1977).

Auf diesem Hintergrund eines wissenschaftlich rational ungreifbaren Irrationalismus entsteht jene daher nicht begründbare Wissenschaftsfeindlichkeit, deren weitere Entwicklung heute sicherlich nicht abzusehen ist. Der einzige Ausweg aus diesem Teufelskreis scheint dabei, die möglichen "rationalen" Ursachen für diesen Verfall aufzuzeigen, wobei eine Psychologie, die sich dem Irrationalen stellt und es nicht aufgrund eines perspektivenverkürzenden Paradigmas leugnet oder verdrängt, noch am ehesten die Chance hat, als Wissenschaft zu"überleben", wobei vordergründig wohl die Auseinandersetzung mit den sich aus der "wissenschaftlichen Bedrohung" ergebenden Ängsten der Menschen zum Thema werden dürfte. Hierin besteht vermutlich die wesentlichste Verpflichtung für eine wissenschaftliche Psychologie, ihre Kapazitäten in den Dienst der menschlichen Gemeinschaft zu stellen. Dieser Aufgabe nachzukommen wird ihr aber nur dann gelingen, wenn es ihr gelingt, ihren Gegenstand im Einklang mit seiner Natur zu halten, d.h., eine umfassende und ganzheitliche Perspektive zu wählen.

Als mögliche Hoffnung für den Menschen erweist sich dabei die Evolutionstheorie, nach der die Zukunft der Menschen wie der Wissenschaften grundsätzlich noch offen ist. "Die Wissenschaft, die den Menschen stets im Einklang mir der gesamten Natur hält, braucht nicht gebremst oder verkleinert werden. Denn sie wird von selbst langsamer und schrumpft von selbst auf ihr menschliches Maß zurück, weil ihr Anspruch wesentlich höher ist als jenes Involutionsphänomen, das den Wissenschaftler zum Spießgesellen verantwortungsloser Politiker und Geschäftemacher erniedrigt hat" (OESER 1983, S. 57). Meines Erachtens klingt in dieser Aussage vielleicht etwas zu viel Vertrauen oder Hoffnung in die Selbstregulation der "Natur" mit, denn wie OESER an anderer Stelle richtig sagt, gab es noch nie eine Epoche wissenschaftlicher Entwicklung, in welcher Menschen in der Lage waren, so umfassend "gegen" die Natur handeln zu können und auch tatsächlich zu handeln. Vermutlich ist es ein charakteristisches Kennzeichen unseres heutigen Denkens, sich nicht mehr als Teil der gesamten Natur zu fühlen sondern vielmehr als ihr Beherrscher. Diese Omnipotenzansprüche des Menschen liegen im wesentlichen im Paradigma des Machbaren begründet, das uns in den (natur)wissenschaftlichen Errungenschaften den Sieg über die Natur verheißt. Es ist glattweg absurd, die psychischen Probleme, die sich die Menschheit gerade aufgrund eines naturwissenschaftlichen Paradigmas eingehandelt hat, mit einer Psychologie lösen zu wollen, die sich in hohem Maße diesem Menschenbild verpflichtet fühlt.

KNORR-CETINA (1981), die eine vielleicht als "biologistisch" zu kennzeichnende Theorie wissenschaftlichen Fortschritts vertritt (s.u.), weist darauf hin, daß ein hohes Ausmaß an Indeterminiertheit des wissenschaftlichen Wandels auch durchaus positiv zu bewerten ist. Wie neuere Entwicklungen in der Theorie selbstregulierender Systeme oder der Thermodynamik gezeigt haben, ist Indeterminiertheit u.a. eine Voraussetzung dafür, daß "progressive" Selbstorganisation stattfinden kann. Es ist nämlich nicht so, daß "Ordnung" einfach aus "Unordnung" - also Unbestimmtheit und Zufall - entstehen kann, vielmehr resultiert Organisation aus wachsender Komplexität und Systemdifferenzierung. Während man bisher glaubte, daß Zuwachs bloß Wiederholung bzw. Redundanz erzeugt, und daß daraus die Stabilität eines Systems resultiert, vermutet man heute eher, daß nur "Fehler" und damit verbundene Informationsverluste für progressiven Wandel verantwortlich sind. Ohne solche Fehler, d.h. Indeterminiertheiten, würden etwa biologische Arten, d.h. Systeme mit Organisation, mit der Zeit aussterben. Ich meine, daß der in dieser Arbeit postulierte Irrationalismus wissenschaftlicher Entwicklung ein (metaphorisches) Äquivalent zum biologischen Indeterminismus darstellt. Wissenschaftlicher Fortschritt ist demnach "tatsächlich" eher das Ergebnis irrationaler Komponenten als Resultat rationaler Arbeit. Mit dieser Paradoxie zu leben ist vielleicht ein rational "wirklich" nicht zu bewältigendes Hauptproblem der Wissenschaften. Die Psychologie mit ihrem genuinen Gegenstand "Mensch" könnte aber vielleicht jene Wissenschaft sein, die solchen Prozessen auf die Spur kommt, wobei Irrationalismus dann wohl nicht bloß deskriptive, sondern vorwiegend explikative Valenz besitzt. Die Gefahr für den Menschen, die ich sehe, besteht vielleicht am ehesten darin, angesichts solcher "ohnehin vorhandenen" selbstregulativen Mechanismen in Passivität zu verfallen. Dann könnte man mit Recht sagen: Welch ein tragischer "Irrtum" der kognitiven Evolution! Nur: Wer ist dann "man"?

Das Problem der Wissenschaftsfeindlichkeit

Perspektiven haben immer auch eine spekulative Komponente, die aus einer mehr oder minder subjektiven Bewertung der zu besprechenden Phänomene resultiert. Es liegt gerade in der "Natur" eines Paradigmas bzw. einer paradigmatischen Analyse, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wurde, daß nicht alle Facetten in gleichem Ausmaß berücksichtigt werden können, insbesondere nicht jene, die sich der Leser vielleicht gerade erwartet. Ich bin mir sicher, daß noch viel analytische und integrative Arbeit zu leisten sein wird, bis eine radikal konstruktivistische Psychologie jenen Platz einnehmen und behaupten kann, wie das die traditionelle Psychologie - trotz ihrer stets aufgewiesenen Krisenhaftigkeit bzw. Fragwürdigkeit - heute tut. Ich werde die Perspektiven einer radikal konstruktivistischen Psychologie paradigmatisch-konsequent als Ziele formulieren, d.h., auf jene Forschungsbereiche hinweisen, die von einer konstruktivistisch neuorientierten Psychologie zu bearbeiten sind. Die Reihenfolge der Darstellung soll nur bedingt auf ein Vorrangverhältnis verweisen, es haben auch "dramaturgische" Überlegungen eine Rolle gespielt.

Ziele und Perspektiven einer radikal konstruktivistischen Psychologie

Die Krise der Psychologie ist vermutlich tatsächlich in hohem Maße eine Grundlagenkrise bzw. sie kann in wesentlichen Aspekten auf spezifische Grundlagenprobleme zurückgeführt werden. Wie ich in dieser Arbeit zu zeigen versuchte, sind gerade die erkenntnistheoretischen Fundamente der heutigen wissenschaftlichen Psychologie wieder in Diskussion genommen. Es stellt sich allerdings angesichts derartiger Bemühungen die Frage,

  • ob es sich um die Reaktion auf genuin psychologische, d.h., innerwissenschaftliche, Probleme handelt, oder
  • ob es nicht die Reaktion auf Moden und Trends ist, die im näheren und weiteren wissenschaftlichen Umfeld der wissenschaftlichen Psychologie vorliegen, oder
  • ob es sich nicht überhaupt um eine globale - im Sinne der Wortbedeutung - Krisenhaftigkeit im Verhältnis des Menschen zu Fragen der Lebensbewältigung (-beweltigung) handelt.

Der letzte Aspekt klingt besonders in neueren epistemologischen Anstrengungen innerhalb der Psychologie an. Die Diskussion im ersten Teil dieses Schlußkapitels verweist nachdrücklich auch auf diese Dimension des Krisenproblems.

Für alle drei Frageperspektiven wurden in dieser Arbeit Belege gefunden und es entspräche einer gewissen wissenschaftlichen Tradition, eine Multikausalität oder Vernetzung dieser drei Krisen-Erklärungsmöglichkeiten zu postulieren. Ich glaube allerdings, daß dieser traditionelle (Erklärungs)Weg letztlich in einer allgemeinen Unverbindlichkeit endet, und daher nur wenig nützliches Veränderungspotential enthält. Für die Psychologie als Wissenschaft kann zunächst nur eine innerwissenschaftliche Problemlösungsstrategie sinnvoll sein. Ich meine damit, daß sich die Psychologie angesichts aufgewiesener - aber weitgehend geleugneter oder verdrängter - Krisenhaftigkeit innerhalb ihres Bereiches bemühen sollte, zunächst für sich allein gangbare Wege zu suchen und nicht so sehr in Richtung anderer Disziplinen zu schielen. Ich habe das an der Notwendigkeit einer "Psychologie der Psychologie" aufzuweisen versucht, die noch vor einer allgemeinen Psychologie der Wissenschaften in Angriff genommen werden sollte, um nicht wieder ihr Erkenntnisinteresse in probater Weise zu externalisieren. Wie in dieser Arbeit immer wieder von innen nach außen argumentiert wurde, so scheint mir die Lösung grundlagenspezifischer Probleme ebenfalls nur in dieser Handlungsrichtung möglich bzw. zu rechtfertigen. Die Lösung der Grundlagenproblematik liegt daher in der Bemühung um ein autochthones Paradigma. HERZOG (1984, S. 330) spricht von der Notwendigkeit einer Psychologie-Psychologie. Hier ist meines Erachtens die Psychologie als Wissenschaft bzw. das Handeln des Wissenschaftlers in den Blick zu nehmen, wobei hier sowohl paradigmatische als auch theoretische Fragen im Mittelpunkt stehen müssen. Das zur Verfügung stehende Methodeninventar der Psychologie scheint mir so weit entwickelt zu sein, daß diese Aufgabe schon heute angegangen werden kann, gleichwohl in der vorherrschenden Machtstruktur der scientific community dabei zahlreiche Barrieren zu überwinden sein werden.

1. Ziel: Zu einer autochthonen psychologischen Wissenschaftstheorie

Die bloße Aufweisung einer Grundlagenkrise verführt vermutlich implizit-strukturell zu der schon des öfteren angesprochenen Externalisierung, wie sie deutlich in der intensiven Beschäftigung mancher Psychologen mit den jeweils "neuesten" wissenschaftstheoretischen Ansätzen in der Philosophie zum Ausdruck kommt, auch wenn sie vermutlich - zumindest für die deutschsprachige Psychologie - nur von der Bearbeitungskapazität Wolfgang Stegmüllers abhängig ist. Dabei wird übersehen, daß die Wissenschaftstheorie im heutigen Verständnis ja auf die wissenschaftlichen Entwicklungen nur "re"agiert bzw. den wissenschaftlichen Prozeß "re"konstruiert und dies aufgrund ihrer angestrebten Funktion auch nur tun möchte. Allerdings: "Die Wissenschaftstheorie, die immer der Realität des Forschungsprozesses nachhinkt, hat die Prinzipien dieses inneren Wettlaufes der Wissenschaft mit sich selbst in seltsamer Verdrehung als normative Grundsätze für den wissenschaftlichen Fortschritt aufgestellt. In Wahrheit hat sie aber die gespenstischsten Karikaturen … propagiert" (OESER 1983, S. 51). Die ausführlich in dieser Arbeit dargelegte Diskussion um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen innerhalb der Psychologie zeigt, daß hier die Funktion der Wissenschaftstheorie weitgehend falsch verstanden wird (vgl. dazu auch HERZOG 1984).

Zu der Besinnung auf die Grundlagen gehört nämlich auch die Besinnung auf die genuin als psychologisch aufzuweisenden Frage- und Problemstellungen. Die Psychologie hat heute mehr denn je nachzuweisen, daß sie bestimmte Aufgaben in einer Gemeinschaft von Menschen - und Lebewesen im weitesten Sinne - übernehmen kann. Sie hat sich damit auseinanderzusetzen, welche psychologischen Probleme heute und in Zukunft auf sie zukommen. "Nur Heuchelei könnte heute den Traum vom reinen Erkenntniswert der Wissenschaft auf irgendeinem Gebiet noch aufrechterhalten" (OESER 1983, S. 50). Die Psychologie kann sich nicht von den jeweiligen Lebenszusammenhängen isolieren und sich auf eine zwar wichtige, aber dennoch nicht überzubewertende, Grundlagenforschung zurückziehen oder beschränken. Eine solche "Ausrede" kann vermutlich auch nur innerhalb eines günstigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungsfeldes gelten, d.h., wenn ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, die sie nach eigenem Gutdünken innerhalb ihrer community verteilen kann. Von der Entfremdung der Wissenschaften bzw. der Wissenschaftler von den Lebenszusammenhängen war in dieser Arbeit immer wieder die Rede (vgl. auch PORTELEs (1982) Ausführungen zum Pilatus-Syndrom). Eine pragmatische Wende, wie ich sie in dieser Arbeit auch fordere, muß meines Erachtens mit einer ethischen Wende einhergehen, soll sie nicht in einem bloßen Utilitarismus münden. BISCHOF (1981) spricht von der Notwendigkeit einer Heuristik der Zweckmäßigkeit gegen die heute unhaltbare Illusion der reinen Wissenschaft. OESER (1987, S. 62) betont in evolutionärer Perspektive den Primat des praktischen Wissens vor dem theoretischen.

Dabei hat eine entsprechende Pragmatik in der Psychologie zu berücksichtigen, daß sich ihr Gegenstand eben weitgehend den Forderungen nach Meßbarkeit, Wiederholbarkeit und Exaktheit widersetzt. Die Suche nach konstanten Gesetzen, d.h., nach einer deskriptiven Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und Wissen, ist eine Illusion. Es läßt sich zeigen, daß die Wissenschaft durchaus recht erfolgreich arbeiten kann, ohne solche Gesetze zu "besitzen" bzw. überhaupt nur anzustreben. So wendet etwa die Psychiatrie erfolgreich Therapien bei einer Reihe von psychischen Störungen an, für die sie keine deskriptiv adäquaten Erklärungen hat - was zugegebenermaßen nicht immer "gesund" für die Psychohygiene der Handelnden sein muß. Auch das Beispiel der Maus, die vor einer Katze davonläuft, kann hier als Beispiel dienen: Muß man annehmen, daß die Maus läuft, weil sie irgendwo im Kopf eine korrekte Abbildung der Feindschaft der Katze verankert hat, oder müssen wir bloß vermuten, daß Arten, die nicht vor ihren Feinden fliehen, mit der Zeit aufhören zu existieren? Für das Überleben sind nun einmal nicht die "richtigen" oder "wahren" Abbilder, sondern die entsprechenden Reaktionen wichtig. Das gilt auch für die grundlegenden genetisch bedingten Strukturen und Funktionen unseres Erkenntnisapparates, die nur an eine "kognitive Nische", deren Begrenzungen sinnesphysiologisch vorgegeben sind, angepaßt sind (vgl. OESER & SEITELBERGER 1988, S. 38).

Der Fortschritt der Wissenschaft läßt sich vermutlich ebenso wie der Fortschritt der Evolution interpretieren, nämlich daß es keine notwendige Voraussetzung für das Überleben bzw. die Existenz ist, daß Erkenntnis und Wissen die Natur repräsentiert oder nachbildet (vgl. KNORR-CETINA 1981). Es scheint mir daher notwendig, daß die Psychologie die im Skeptizismus und Pragmatismus immer wieder vorgeschlagene Ausklammerung der ontologischen Frage einfach für sich und ihren Gegenstand akzeptieren muß, und daß menschliche Phänomene immer auch unter einem aktiv-konstruktiven Blickwinkel zu betrachten sind. Sowohl biologische als auch psychologische Erkenntnisse - gleichwohl oder weil sie vom Menschen "gemacht" wurden - sprechen für diesen Standpunkt, der vermutlich ebenso sicher und zuverlässig ist wie nur irgendein anderer. Viel nützlicher schiene es mir, die dadurch frei gewordenen Kapazitäten darauf zu verwenden, nach dem Machenswerten zu fragen, d.h., sich den ethischen und moralischen Problemen unserer Wissenschaft verstärkt zuzuwenden. Diese verweisen zudem auf die heute - und vermutlich auch in dieser Arbeit - in einem radikal konstruktivistischen Paradigma vielleicht noch zu kurz kommende soziale Perspektive, wobei vielleicht ein neuer konstruktiver Sozialbegriff definiert werden müßte. Manche Phänomene der Massengesellschaft (Entfremdung, Isolation, Urbanisierung), die in vielen Bereichen den Ausfluß eines naturwissenschaftlichen Paradigmas des Machbaren darstellen, könnten so besser bewußt gemacht bzw. überhaupt verstanden und somit "vielleicht" auch für die Psychologie lösbar werden. Auch die Wissenschaft ist heute eine Massengesellschaft!

Die oben angeführte Leugnung des Irrationalen kommt auch in praktischen Feldern der Psychologie "deut"lich zum Vorschein. Vor kurzem wurde in Österreich eine Studie über die Sektenproblematik bei Jugendlichen veröffentlicht, wobei sich angesehene Soziologen und Psychologen darüber verwundert zeigten, daß etwa die Hälfte der Jugendlichen so empfänglich für "irrationale" Phänomene sei. Das alles gipfelte im Kommentar eines psychologischen Wissenschaftlers, daß es für Jugendliche natürlich gefährlich sei, sich mit dem Irrationalen überhaupt zu beschäftigen. Ohne darauf jetzt ausführlich einzugehen, soll hier nur konstatiert werden, daß solche Reaktionen von Wissenschaftlern zwar eine treffliche Unterstützung für unsere Argumentation sind, vor allem aber einen beklagenswerten und betrüblichen Beweis für die (natur)wissenschaftlich verkürzte Weltsicht unserer heutigen Human- und Sozialwissenschaften darstellen.

2. Ziel: Zu einer pragmatischen Orientierung der Psychologie

Dazu gehört in zahlreichen Forschungsbereichen der Psychologie die Beendigung der Phase des extensiven Datensammelns ohne praktische und theoretische Integration. Vermutlich ist auf die Dauer aber auch für den Fortschritt einer Wissenschaft nur wenig gewonnen, wenn diese etwa aufgrund der zahlreichen Experimente zum Behalten sinnloser Silben nach dem Genuß von zehn Liter Himbeersaft das dringende Bedürfnis danach verspürt, auch die Einflüsse des Konsums von zwölf Litern zu untersuchen (so lautet ein bekanntes Beispiel). Meines Erachtens liegen in manchen Forschungsbereichen - etwa in der Lern-, Gedächtnis- oder Sozialpsychologie - bereits soviele Arbeiten vor, die einer eingehenden theoretischen Erörterung und Verarbeitung bedürfen, sodaß sie bei der Berücksichtigung einer entsprechenden Zielperspektive in praktisches Handeln umgesetzt werden können. Zwar wird eine solche theoretische Arbeit - nach den vorherrschenden Fortschrittskriterien - vermutlich weniger den innerwissenschaftlich akzeptierten Innovationsansprüchen entsprechen, doch liegt das Problem eben gerade in diesen Kriterien, die für wissenschaftliche Arbeit Geltung haben. Diese liegen in einem Paradigma des kumulativen Wissenschaftsfortschrittes begründet, der in bezug auf den Gegenstand der Psychologie zumindest fragwürdig scheint. In bezug auf die scientific community liegt die Sache vielleicht vordergründig betrachtet zunächst einmal ein wenig anders.

In der Psychologie - wie in anderen Wissenschaften auch - dominieren heute "Wegwerftheorien" (OESER 1983). Die Beschleunigung der Produktion und Entwertung wissenschaftlicher Erkenntnis, wie sie wohl zu keiner Zeit so ausgeprägt war, ist einerseits die Folge der beschleunigten Kommunikation, andererseits beruht sie auf der begrenzten Kommunikationsfähigkeit des einzelnen Wissenschaftlers. "Ein geschäftiges Heer von Ameisen produziert unter Zeitdruck im Konkurrenzverfahren neue Ideen, die ebenso schnell vernichtet werden, wie sie entstehen. Denn je mehr Neues entsteht, umso stärker muß der Selektionsdruck werden. Allerdings ist der Selektionsdruck einseitig. Es ist der Selektionsdruck, den die Wissenschaft in sich selbst ausübt" (OESER 1983, S. 51). Besonders das akademische Forschungspostulat, das die Wissenschaften heute beherrscht, lautet ja, daß jede wissenschaftliche Arbeit zum Fortschritt der Wissenschaften beitragen soll und daher "neu" sein muß. In Wahrheit wird ja nur konserviert, aufgezeichnet, abgeschrieben, umgeschrieben, nachgedruckt und vervielfältigt. Ungeprüfte - und meist auch unprüfbare - Informationen werden etwa über Datenbanken verbreitet. "Was aber daraus entstehen kann, wurde in einer Selbstkritik anläßlich eines Projektes 'zur raschen Verbreitung unüberprüfter Materialien' in der Amerikanischen Psychologischen Vereinigung deutlich genug ausgesprochen: 'Eine große Kloake, die Mist von einem Wissenschaftler zum anderen befördert.' Solche Kloaken der kollektiven Vernunft gibt es heute unzählige. Es wird kein Kongreß oder Symposion oder sonst irgend etwas abgehalten, ohne daß alle Vorträge sofort veröffentlicht werden. … In den Massenmedien wird jeder intellektuelle Rülpser eines mittelmäßigen Wissenschaftlers millionenfach verstärkt über beliebige Entfernungen gesendet" (OESER 1983, S. 50). Die Datenberge haben in der Psychologie heute ein unvorstellbares Ausmaß erreicht, wobei durch weitgehend automatisierte Auswertungsmöglichkeiten und durch die vielfältig verfügbaren "Programmpakete" zahllose Erklärungssysteme bereitstehen, die zur Potenzierung beitragen. Hinzu kommt, daß Wissenschaftler heute vorwiegend als "Verpackungskünstler" (OESER 1983) auftreten müssen, um ihre Produkte zu verkaufen. Am besten wählt man eine möglichst geheimnisvolle Terminologie oder einen hochgestochenen mathematischen Formalismus, um in der jeweiligen scientific community Erfolg zu haben. Dabei ist heute vermutlich das Verhältnis von "echter" zu "unechter" Wissensproduktion etwa 1:1000 (vgl. OESER 1983).

Wie ich in dieser Arbeit - im Anschluß an viele andere Kritiker der traditionellen psychologischen Forschung - immer wieder betont habe, ist die Kompliziertheit wissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung in vielen Fällen bloß ein Artefakt von Restbeständen einer naturwissenschaftlichen, objektivistischen Außensicht und kein vom Gegenstand her bedingtes Phänomen. Es stünde einer neuen Psychologie wohl zu Gesicht, sich auch auf die Innensicht, d.h., vor allem auch auf die Bedeutungen, "einzulassen", denn dann könnte wohl eine Vielzahl von komplizierten und "umständlichen" Erklärungskonstrukten wegfallen, die mit einer krampfhaften Aufrechterhaltung objektivistischer - und damit inadäquater - Weltwahrnehmung zu tun haben. Das Schlimme daran ist aber nicht so sehr die ausschließliche Rationalität der Wissenschaft und ihr unbedingter Glaube daran - dann wäre sie vermutlich eine Sekte unter vielen anderen -, vielmehr stülpt sie dieses Menschenbild auch über alle anderen bzw. versucht es zumindest. Besonders tragisch scheint mir dabei, daß die modernen Wissenschaften im Bewußtsein der Öffentlichkeit ohnehin nicht nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund ihrer Kompetenzansprüche präsent sind. Für einen Humanwissenschaftler ist das schlichtwegs eine Katastrophe.

Ich habe anhand zahlreicher Beispiele in dieser Arbeit zu demonstrieren versucht, daß eine explodierende "Begriffs-", "Konstrukt-" oder "Operationalisierungspsychologie" und eine damit "zwangsläufig" einhergehende "Ontologisierungspsychologie" zu einer unnötigen Aufblähung des sogenannten theoretischen Apparates führen muß, die Wissen und Erkenntnis letztlich bloß vortäuscht, wobei diese Täuschung vermutlich in hohem Maße eine Selbsttäuschung des Wissenschaftlers darstellt. Oder pointiert: Der traditionelle Wissenschaftler braucht eine "Lebenslüge" zur Aufrechterhaltung seiner Existenz. Der workoholic unter den Wissenschaftlern, der nichts, aber schon gar nichts ist ohne seine wissenschaftliche Arbeit - und wer von uns kennt ihn nicht? -, ist wohl die traurige und bedauernswerte Karikatur und zugleich Inkarnation des (natur)wissenschaftlichen Menschenbildes.

Die wissenschaftliche "Umweltverschmutzung" durch (Über)Produktion liegt eben im wesentlichen an den Kriterien, an denen sich eine Wissenschaft bei ihrem Fortschritt orientiert. Die Psychologie wäre gut beraten, würde sie eine "schöpferische (?) Pause" einlegen und sich mehr um theoretisch-integrative Fundierung bemühen. Das erfordert allerdings den Mut, eigenes Handeln und die damit verbundenen Zielsetzungen zunächst in Frage zu stellen. Dabei müßte doch durch die heutigen Möglichkeiten etwa in der Datenverarbeitung für den einzelnen Wissenschaftler mehr Zeit für kreative und theoretische Arbeit übrigbleiben, doch wird diese "verfügbare" Zeit nur zur quantitativen Erhöhung des Outputs genutzt. Die Phasen theoretischer Arbeit sind im Zeitalter der empirischen Psychologie auf das rasche Ausbeuten von Datenbanken konzentriert, wobei die Bewertung oft schon der Software überlassen bleibt *.

KNORR-CETINA (1981) diskutiert den wissenschaftlichen Fortschritt unter dem Aspekt der jeweiligen "Selektionen" und "Vorselektionen", die vom Wissenschaftler aufgrund bestimmter Kriterien vorgenommen werden, und zeigt, daß Wissen und Erkenntnis als Produkt wissenschaftlichen Handelns weitgehend intern, d.h., innerhalb eines engen wissenschaftlichen Kontexts, konstruiert sind. In der neuzeitlichen Wissenschaft stellen die apparativen und methodischen Ressourcen ja nichts anderes dar als "materialisierte" Selektionen, die aber dem Wissenschaftler nicht mehr bewußt sind. In der Psychologie sind neben dem Computer oder dem Rechenzentrum zahllose andere materialisierte Selektionen - etwa in Form der "bewährten Methoden" wie Fragebogen, Experiment, Labor usw. - dafür ausschlaggebend, daß wissenschaftliche Arbeit bloß in der Realisierung von Selektivität in einem von zahllosen vorhergehenden Selektionen konstituierten Raum darstellt, wobei Zyklen von Reproduktionen selektiv potenzierend wirken, aber nicht im Hinblick auf Wissensproduktion sondern bloß zur Förderung der wissenschaftlichen Produktivität. Es ist dabei zu betonen, daß Selektivität in diesem Sinne aber nichts mehr mit Intentionen und Zielen zu tun hat, sondern vielmehr weitgehend indeterminiert und zufällig ist. Wissen und Erkenntnis ist dann aber nicht mehr das Produkt von Wissenschaftlern, sondern das Produkt des Zusammentreffens und der Interaktion von Faktoren, deren Relevanz allein darin besteht, daß sie zufällig an einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort die Umstände ausmachen, in denen die Wissenschaftler operieren. Diese "kontextuelle Kontingenz" von Wissen wird heute mehr oder minder ungefragt "akzeptiert" bzw. bei der Diskussion von Wissenschaft "ignoriert". Für die Psychologie wäre daher eine eingehende Reflexion dieser Selektionen und Kontingenzen vordringlich, um vor allem den context of justification einmal deutlich zu machen, in welchem die psychologischen Theorien auf dem Prüfstand stehen. Das kann meines Erachtens aber nur in reflexiv-theoretischer Arbeit geschehen.

Ein für die Psychologie vielleicht nachahmenswertes Beispiel der Verbindung empirisch-experimenteller Arbeit mit theoretischer Durchdringung kann in der Zusammenarbeit von Jean Piaget und Bärbel Inhelder gesehen werden (vgl. INHELDER 1988, S. 76), wobei hier eine Gesamtkonzeption oder Weltsicht, in unserem Sinne also ein Paradigma, handlungsleitend und gleichzeitig in ständigem Fluß begriffen war, und jenen integrativen Kristallisationspunkt der Forschung darstellte, der der heutigen Psychologie so sehr fehlt. Aber auch die m.E. äußerst gegenstandsadäquate Methodologie der Ethologie, wie sie etwa von Konrad Lorenz begründet wurde, kann der Psychologie durchaus als Vorbild dienen.

Wie in dieser Arbeit aufzuzeigen war, werden die inhaltlichen Probleme unserer Wissenschaft eben nicht so sehr auf inhaltliche Rahmenbedingungen oder Merkmale bezogen, sondern viel eher auf methodische und inhaltsfremde Veranstaltungen zur Aufrechterhaltung eines unkritisch übernommenen Gegenstandsmodells. Dieses schon eingehend diskutierte Inversionsprinzip ist wohl ein Pendant zur epistemologischen Externalisierungsstrategie auf methodischer Ebene. GERGEN (1985, S. 53) weist darauf hin, daß die Überbewertung der Rolle der Methoden in der Psychologie die Aufmerksamkeit von der "echten" theoretischen Arbeit abgelenkt haben, den Umfang und das Potential der Interpretation erlahmen ließen. "Die theoretische Arbeit muß aufhören, die Rolle einer Dienstmagd für die Methodologie zu spielen. Vielmehr ist es höchste Zeit, den Lauf der Geschichte völlig zu ändern und die theoretische Arbeit in den Mittelpunkt disziplinärer Arbeit zu stellen. Die Methoden können dann den untergeordneten Zweck, für den sie so gut erdacht worden sind, erfüllen".

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich wissenschaftliche Skepsis - wie ich sie mir vorstelle - nicht mit dem "rationalen" Kriterium der heute üblichen wissenschaftlichen Kritik vermengt oder verwechselt sehen will. Skepsis hat für mich viel zu tun mit persönlichen ethischen Bewertungen und Überzeugungen, also letztlich vielleicht irrationalen Komponenten. Die heutige "kritische Wissenschaft" scheint mir Kritik eher als Formalismus zu betrachten, wie er etwa typischerweise im POPPERschen Falsifikationismus sichtbar wird. Eine solche Auffassung bewegt sich in einem offensichtlichen Zirkel, der sich darin äußert, daß "Kritik als solche" eine (Über)Bewertung erhält, die ihr meines Erachtens nicht nur nicht zusteht, sondern zum Anliegen "echter" Wissenschaft sogar kontraproduktiv wirkt. Jeder Wissenschaftler kennt wohl die dementsprechenden Rituale aus eigener "Anschauung", in denen wissenschaftliche Kritik zum Selbstzweck wird und die intendierten Ziele verfehlt. OESER (1987, S. 56) fordert für die Wissenschaft die Auseinandersetzung mit einer evolutionären Ethik, die uns vermutlich allein das Überleben in einer (unserer !) "moralischen Nische" ermöglicht. Eine solche Ethik muß dabei versuchen, mit der kognitiven Evolution erst einmal schrittzuhalten, denn letztere überfordert offensichtlich schon heute den Menschen. Damit wird jene Notwendigkeit eines konsensualen Erschaffens unserer Welt angesprochen, die MATURANA & VARELA und andere Konstruktivisten vielleicht "konkreter" mit dem Begriff der "Liebe" umschreiben. Denn jede Ethik, die nicht als allgemeines Abstraktum losgelöst vom Erkenntnisträger "konstruiert" ist, kann letztlich nur in der tätigen Liebe des Einzelnen zu sich selbst und zum Mitmenschen aufgelöst werden.

3. Ziel: Zu einer human und ethisch begründbaren psychologischen Forschungspraxis

In dieser Arbeit wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß ein zentrales Problem der heutigen wissenschaftlichen Psychologie das Verhältnis des Wissenschaftler zu seinem Gegenstand darstellt. Im Zuge einer paradigmatischen Analyse des psychologischen Wissenschaftsbetriebes kann und muß dieser "doppeldeutige" Begriff des Forschungssubjektes für beide Subjekte stehen. Während etwa im Rahmen der humanistischen Psychologie vor allem die Problematik des wissenschaftlichen Gegenstandes (etwa der Versuchsperson) diskutiert wird, muß hier auch und im besonderen die Problematik des "zweiten" Forschungssubjektes, also des Wissenschaftlers, thematisiert werden. Betrachtet man nämlich die oben diskutierte Problematik des Wissenschaftlers im Prozeß des wissenschaftlichen Handelns, dann zeigt sich ein Phänomen, das meist als "Entfremdung" bezeichnet wird. PORTELE (1982) zeigt in einer Untersuchung auf, daß die Entfremdung an den Universitäten mit einer "Verregelung" und "Verriegelung" des moralischen Bewußtseins des Wissenschaftlers einhergeht. Durch die wissenschaftliche Sozialisation wird ein jeweils wissenschafts- und fachspezifischer "Habitus" entwickelt, der ein weitgehend nicht bewußtes und selbstverständlich erscheinendes Regelsystem darstellt. Die wohl zentrale (Spiel)Regel für den Wissenschaftler lautet, daß Erkennen und Handeln trennbar seien. Die "Übernahme" bzw. Akzeptanz dieser Regel führt zu dem schon erwähnten Pilatus-Syndrom, nach dem wissenschaftliches Handeln neutral und wertfrei sei bzw. sein könne.

Diese Trennung "hier Wissenschaftler, hier Natur" ist eine Grundlage des traditionellen naturwissenschaftlichen Paradigmas. Das führt zu den schon besprochenen grotesken Annahmen, daß man als Wissenschaftler nur brav die Prinzipien der Exaktheit, Meßbarkeit und Wiederholbarkeit einhalten müsse, um objektive und wahre Ergebnisse zu erhalten. "Die Wissenschaftstheorie, die diesen Äußerungen unausgesprochen zugrundeliegt, ist von einer geradezu entwaffnenden Naivität. Da ist nichts zu bemerken davon, daß es wissenschaftliche Revolutionen gab, daß nach Popper Theorien nicht verifizierbar, allenfalls falsifizierbar sind - oder gar von der Widerlegung Poppers, daß man weder falsifizieren noch verifizieren könne, sondern alles nur Produkt unseres Gehirnes sei. Fremd ist diesen Wissenschaftlern auch die Einsicht, daß der Beobachter nicht nur Beobachter ist, sondern immer schon Teilnehmer, der das Beobachtete in der Beobachtung verändert, was übrigens bei dieser Untersuchung nicht anders ist" (PORTELE 1982, S. 59).

Gerade die Psychologie müßte aufgrund ihres Gegenstandes dazu in der Lage sein, ihre "Fragen an die Natur" auch an sich selber zu stellen, d.h., eine "reflexive Psychologie im strengen Sinne" zu betreiben, wie sie auch HERZOG (1984) fordert. Meines Erachtens spiegelt die oben angesprochene Entfremdung des Wissenschaftlers von seinem Gegenstand weitgehend die Entfremdung von sich selber wider. Dabei ist es nun ja nicht so, daß Wissenschaftler in der Regel nicht über ihr eigenes Handeln reflektieren, doch wird dabei die Problematik meist stellvertretend in die Relation Forscher-Gegenstand projiziert. Diese Projektion ist bei Psychologen besonders häufig, wobei vermutlich ein "Schutzmechanismus" zur Aufrechterhaltung des (Natur)Wissenschaftlichkeitsanspruches wirksam ist.

Die in dieser Arbeit immer wieder angesprochene Methodenorientierung führt in bezug auf den Erkenntnisgewinn einer Wissenschaft ohnehin zu der beinahe paradoxen Situation, daß es bei genauer, exakter und wiederholbarer Forschung gleichgültig ist, was bei der Forschung herauskommt, denn "das Verfahren ist geregelt, nicht das Ergebnis. Wenn das Verfahren in den Vordergrund gestellt wird, kann die Verantwortung für das, was mit dem Wissen geschieht, den anderen überlassen werden" (PORTELE 1982, S. 59). Verantwortung aber hängt mit persönlicher Betroffenheit, mit Vertrautheit zusammen, also jenen psychologischen Phänomenen, die der Entfremdung diametral gegenüberstehen. Eine reflexive Psychologie würde daher nicht nur in bezug auf das Verhältnis des Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand eine Verbesserung bringen, sondern vor allem auch eine Verbesserung der psychischen Hygiene innerhalb der scientific community, deren "Schattenseiten" in dieser Arbeit an vielen Stellen ausgeleuchtet wurden. Wenn manche auch meinen, daß die Psychologie ihren Newton noch nicht gefunden hat - von Einstein will ich gar nicht sprechen -, dann bräuchte sie vermutlich eher zunächst einen Prometheus (Lichtbringer oder Stallausmister?).

Generell im Zusammenhang mit einer Aufwertung des Forschungssubjektes in der Psychologie - jetzt weitgehend im Hinblick auf die traditionelle Bedeutung dieses Begriffes verstanden - steht daher die Forderung, dem Individuum bzw. dessen genuin individualen Strukturen und Funktionen vermehrtes Augenmerk zu schenken. Während epistemologisch wohl eher im Hinblick auf den "solipsistischen" Status des Menschen argumentiert oder auf die Induktionsproblematik verwiesen werden müßte, soll hier vor allem auf die pragmatischen Aspekte hingewiesen werden. In unserem Jahrhundert hat die Sehnsucht des Menschen nach letzten Wahrheiten zu einer faktischen Verherrlichung der Methodologie geführt (vgl. GERGEN 1985, S. 53), in welcher in beinahe gläubiger Weise von Wissenschaftlern das "Heilige" der Wissenschaft vermutet, geortet und schließlich bewahrt wurde. Das hat sich vermutlich in letzter Zeit geändert. Michael WERTHEIMER (1985, S. 36) prognostiziert für die Psychologie der 2000er Jahre eine Abkehr von der ausschließlich nomothetischen Psychologie und eine Aufwertung des Idiographischen, "was gemäß meiner Auffassung bedeutet, daß es eine echtere Verknüpfung experimenteller, korrelativer und klinischer Strategien geben wird, als es in der gegenwärtig zersplitterten Psychologie der Fall ist. Hoffen wir, daß die Veränderung nicht lediglich die Fortführung dessen sein wird, was sich seit Jahrzehnten vollzieht: Neue Termini ersetzen alte; neue Lieblingsideen setzen alte außer Kraft - ohne großen, echten Fortschritt". Eine solche idiographische Psychologie ist meines Erachtens in einer radikal konstruktivistischen Psychologie mit ihrem "dem Menschen adäquateren Menschenbild" wohl leichter zu verwirklichen als unter einem naturwissenschaftlichen Paradigma des Machbaren.

JÜTTEMANN (1983, S. 41) weist darauf hin, daß in den verschiedensten Disziplinen der Psychologie der Mensch mit "überindividuellen Bezugsfiguren" verknüpft wird, denen einiges gemeinsam ist: "Zum einen werden sie durch Abstraktion von jeglicher Individualität, Abnormität und Morbidität gewonnen; denn der 'psychological man' (Rieff 1960), z.B. der Allgemeinen Psychologie oder der Entwicklungspsychologie, ist ein universelles, d.h. vollkommen durchschnittliches und gesundes Wesen fiktiver Art. Zum anderen ist dieses Wesen durch völlige (ontogenetische und soziogenetische) Geschichtslosigkeit und gesellschaftliche Unabhängigkeit gekennzeichnet und gerät dadurch zu einem vor allem biologisch funktionierenden 'Gattungswesen'". Diese Menschenkarikatur der Psychologie ist in hohem Ausmaß Ausfluß des (natur)wissenschaftlichen Paradigmas, dem man sich ver"schrieben" hat, wobei hier durchaus eine Analogie zu einem "Teufelspakt" zu ziehen ist.

Allerdings darf der Begriff "nomothetisch" nicht allein auf eine naturwissenschaftliche Orientierung hin betrachtet werden, sondern kann in einer Neudefinition auch ganz allgemein auf wissenschaftliches Handeln bezogen werden. "Die Bezeichnung 'nomothetische Psychologie' muß nicht notwendigerweise in erster Linie auf die allgemeinverbindliche Anwendung statistischer Auswertungsmethoden und die Suche nach Erklärungen auf der Geltungsbasis von Naturgesetzen verweisen. Sie ließe sich stattdessen genausogut auf die Allgemeinheit der Untersuchungsgegenstände beziehen und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um naturgesetzlich gesteuerte bzw. kausal determinierte oder (lediglich) um prinzipien- oder regelgeleitete psychische Vorgänge handelt. Damit wäre aber nicht nur das allgemeine Verhalten des allgemeinen Menschen, sondern auch das Verallgemeinerbare an den Prozessen der Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung individuellen Verhaltens Gegenstand der Allgemeinen Psychologie" (JÜTTEMANN 1985, S. 57). Das trifft etwa im Kern auch das Wissenschaftsverständnis von PIAGET, der im streng Individuellen das Allgemeingültige zu erkennen hoffte. Bis heute gibt es aber keine dem Gegenstand der Psychologie angemessene idiographische Methodik bzw. Methodologie, die der nomothetischen annähernd gleichwertig wäre.

4. Ziel: Zu einer Aufwertung des Forschungssubjektes

PORTELE (1982) hat in Interviews mit Wissenschaftlern festgestellt, wie sehr heute die Rede von fleißiger und harter Arbeit ist, daß aber kaum von Intuition oder Kreativität gesprochen wird. Diese Einschätzung der Wissenschaft ist vermutlich erst das Ergebnis zahlreicher wissenschaftsimmanenter Tendenzen in unserem Jahrhundert. Bekanntlich leben heute mehr Wissenschaftler - bzw. solche, die sich dafür halten - als jemals in der Menschheitsgeschichte zusammengenommen. In einem solchen Umfeld spielen Konkurrenz und Verdrängung eine wesentliche Rolle, denn der Kampf ums Überleben rückt in den Mittelpunkt. Zwar ist die Betonung des "Kopfes" bzw. des Gehirns (im Gegensatz zu Körper und Herz) für die Wissenschaft nicht so erstaunlich, "aber bemerkenswert finde ich, daß fast alle nur den halben Kopf zu benutzen scheinen, nämlich die dominante Gehirnhälfte, die analytisch, sprachlich, logisch, deduktiv, computerhaft arbeitet. Die sogenannte 'stumme' Gehirnhälfte, die induktiv, nichtsprachlich, räumlich, ganzheitlich in Bildern und Mustern funktioniert, wird nicht beachtet oder sogar verteufelt, obwohl Wissenschaftlerbiographien häufig die Wichtigkeit der Arbeit dieser Gehirnhälfte betonen" (PORTELE 1982, S. 59). Die Verdrängung des Irrationalen aus dem wissenschaftlichen Weltbild könnte man metaphorisch gleichsam als cartesianische Erbsünde bezeichnen.

In zahlreichen Untersuchungen konnten bekanntlich spezielle Eigenleistungen der Gehirnhemisphären identifiziert werden, wobei psychische Phänomene wie Sprache, Händigkeit und Gestalterfassung jeweils auf die Tätigkeit einer Hemisphäre angewiesen ist. "Das bedeutet nicht, daß etwa die Sprache in der li Hemisphäre oder die räumliche Orientierung der Umwelt in der re Hemisphäre als solche lokalisiert oder zentralisiert wären; es ist vielmehr so, daß die für die Sprache benötigte Informationsverarbeitung in jeder der beiden Hemisphären parallel, aber in verschiedener Art und nach verschiedenen Kriterien stattfindet, die Sprache z.B. aber in der li Hemisphäre für die manifeste Ausführung bereitgestellt wird. … Gleiches gilt für die gestaltbezogenen Leistungen der re Hemisphäre. Für diese und die übrigen höheren Hirnleistungen gilt also allgemein, daß sie auf dem Zusammenwirken beider Hemisphären beruhen und diese zu ihrer normalen Ausführung benötigen" (OESER & SEITELBERGER 1988, S. 87). Es muß betont werden, daß Simplifizierungen, wie sie bei solchen Gegenüberstellungen oft vorgenommen werden, unbedingt vermieden werden müssen, denn sie sind nach unserem heutigen Wissensstand auch meist falsch. Man muß sich nämlich immer bewußt sein, daß zur Zeit nur Vermutungen und vage Hinweise bestehen, daß aber keine Erklärungen der höchst komplexen wesentlichen Umstände möglich sind. "In diesem Sinn muß die Aussage verstanden werden, daß die li Hemisphäre … eine analytisch-logische Funktion über der Zeitachse und die re eine synthetisch-perzeptive Funktion über den Raumkoordinaten ausübe, oder daß es sich um den Gegensatz zwischen rational und intuitiv, verbal und visuell, sequentiell und parallel, digital und analog etc. handelt. Die Hemisphärenspezialisierung bedeutet also keine Arbeitsteilung, sondern eine potenzierende qualitative Erweiterung des Bearbeitungsspektrums der Großhirnrinde, der offenbar vom Standpunkt des evolutiven Fortschrittes solche Wichtigkeit zukommt, daß dafür die mit ihr verbundene Einbuße an Betriebssicherheit in Kauf genommen werden konnte" (OESER & SEITELBERGER 1988, S. 87). Darüber hinaus sind andere ausgedehnte Zentren, insbesondere der Stirn und Schläfenlappen, vermutlich ebenso entscheidend am Kognitionsprozeß beteiligt, die erst integrativ mit den beiden Hemisphären das ermöglichen, was wir letztlich als Sinngebung oder Bedeutungmachen umschreiben können. Aber auch hier regieren noch Vermutungen und Spekulationen.

Wenn POPPER & ECCLES (1984, S. 423) aufgrund solcher physiologischen und histologischen Ergebnisse Funktionslisten für eine "dominante" und eine "nichtdominante" Hemisphäre aufstellen und überdies mit einer über den Dualismus hinausgehenden 3-Welten-Theorie verbinden, dann kommen hier Bewertungen ins Spiel, die letztlich ihre Weltanschauung offenlegen, aber nichts zu einer Lösung der damit verbundenen epistemologischen Fragen beitragen. Sie übersehen damit, daß höchstens "die philosophische Konsequenz … ist, daß das menschliche Bewußtsein nicht mehr ohne weiteres als fraglos vorausgesetzte Einheit angenommen werden kann, sondern als Einheit, die sich selbst erst in ihrer Tätigkeit aktiv zustandebringt" (OESER & SEITELBERGER 1988, S. 37). Diese vom Subjekt aktiv zu schaffende Einheit ist vor allem von PIAGET in seinen Arbeiten zur kognitiven Entwicklung des Kindes immer betont worden, wobei er letztlich als Ziel immer das wissenschaftliche Denken vor Augen hatte. In der Psychologie wird dieser intendierte Zusammenhang aber weitgehend übersehen.

Ich möchte hier - ohne Kommentar - einige besonders schöne Beispiele für jene Gefahren geben, die sich bei der eben besprochenen Hemisphärenproblematik aus einer - vielleicht oder hoffentlich doch metaphorisch gemeinten - Sprache ergeben können. OESER & SEITELBERGER (1988) schreiben zwar, daß POPPER und ECCLES "natürlich" nicht in jenem lächerlichen Sinn an die Existenz eines "Geistes in der Maschine" glauben, wie ihn RYLE kritisiert hat, doch wäre ich mir da nicht immer so sicher. POPPER & ECCLES (1984, S. 423) schreiben etwa in bezug auf die Hemisphärenspezialisierung u.a. (Hervorhebungen von mir):

"Im allgemeinen ist die dominante Hemisphäre auf fein imaginative Details bei allen Beschreibungen und Reaktionen spezialisiert, das heißt, sie ist analytisch und sequentiell - Eigenschaften, die für verbale Merkmalextraktion und für das Rechnen als wesentlich erscheinen. Und so kann sie addieren, subtrahieren und multiplizieren und andere computerartige Operationen ausführen. Doch natürlich leitet sich ihre Dominanz von ihren verbalen und ideationalen Fähigkeiten und ihrer Verbindung zum Bewußtsein ab (die Welt 2 von Popper …). Wegen ihrer Mängel in diesen Hinsichten verdient die nichtdominante Hemisphäre ihre Bezeichnung, doch in vielen wichtigen Eigenschaften ist sie ausgezeichnet, besonders im Hinblick auf ihre räumlichen Fähigkeiten mit einem stark entwickelten Sinn für Bild und Muster. … Diese Überlegenheit zeigt sich auch durch die Fähigkeit, farbige Steinchen zu gruppieren, um ein Mosaikbild zusammenzufügen. Die dominante Hemisphäre ist nicht in der Lage, auch nur einfache Aufgaben dieser Art auszuführen, und sie ist fast ungebildet im Hinblick auf Sinn für Bild und Muster, wenigstens soweit es durch ihre Unfähigkeit, abzuzeichnen, zu erkennen ist. … Außerdem ist die nichtdominante Hemisphäre in Zusammenhang mit Bildern und Mustern spezialisiert und sie ist musikalisch".

5. Ziel: Zu mehr Intuition und Intentionalität

Auf diesem physiologisch-psychologischen Hintergrund sind die abschließenden Überlegungen zu betrachten, die den Kreis unserer Argumentation (für diese Arbeit!) schließen sollen, der zu Beginn mit einer "sphärischen", "gestalthaften" und "psychologischen" Gegenüberstellung der beiden diskutierten Paradigmen dieser Arbeit "geöffnet" bzw. "angeschnitten" wurde.

OESER (1987, nach OESER & SEITELBERGER 1988) bezeichnet Wechselwirkungen innerhalb eines einheitlichen Systems als "Intraaktionismus", um zum Ausdruck zu bringen, daß es sich um eine komplexe Organisation mit emergenten Systemeigenschaften handelt, wobei diese Eigenschaften dadurch gekennzeichnet sind, daß eine Rückführung auf eine Ebene, aus der sie entstanden sind, ihrer Auflösung gleichkommt. Damit wird jenes Prinzip angesprochen, das in der Gestalt- und Ganzheitspsychologie schon immer zentral - wenn auch letztlich niemals definierbar - war. Die Einheit ihres Gegenstandes bei gleichzeitiger Analysierbarkeit zu bewahren, ist das große (unlösbare?) Problem der Psychologie und auch jeder Erkenntnistheorie. Vielleicht ist das die "Erbsünde" - oder für rationale Wissenschaftler formuliert: der Preis des Lebens -, mit der die Wissenschaften zu leben haben.

Die in dieser Arbeit einander gegenübergestellten beiden Paradigmen sind wie die dazu beinahe ana"loge" (!) Hemisphärendifferenzierung letztlich untrennbar aufeinander bezogen. Es besteht zwischen diesen Paradigmen daher auch keine kontra"diktorische" (!) sondern eher eine komple"mentäre" (!) Beziehung, die darauf verweist, daß der Wissenschaftler bei der konkret-praktischen Arbeit jeweils eine klare Entscheidung für eine der beiden "Möglichkeiten" treffen muß, weil es für ihn wie bei den bekannten Umsprungfiguren keine Chance gibt, beide Perspektiven gleichzeitig zu wählen. In diesem Sinn endet hier "tat"sächlich die Freiheit des Wissenschaftlers bzw. des Menschen.

OESER & SEITELBERGER (1988, S. 150) kritisieren manche Facetten der radikal konstruktivistischen Kognitionstheorie, wobei sie vor allem darauf abheben, daß die Ablehnung des Informationsbegriffes und die Betonung der Geschlossenheit des kognitiven Systems vermutlich nicht haltbar ist. Dabei unterliegen sie aber meines Erachtens insofern einem Mißverständnis, indem sie betonen, daß "auch das Gehirn kein autonomes System ist im Sinne der Selbsterhaltung. Denn es bedarf eines Trägerorganismus, der es erhält und der selbst wieder abhängig ist von den Nahrungs- und Energiequellen seiner Umwelt". Konsequenterweise wenden sie sich daher gegen Gleichsetzung von Erkenntnis und Leben, die ich aber in meiner Interpretation des Radikalen Konstruktivismus aufrechterhalten möchte. Es ist zwar sicherlich richtig, daß das Gehirn (bzw. das Nervensystem) vermutlich das "sich einverleibt" bzw. "schafft", was dann als Erkenntnis, Wissen, Kognition oder auch Konstruktion bezeichnet wird. Ich möchte Erkenntnis usw. aber nicht auf dieses System beschränkt "wissen", sondern jede Zelle, jeder Zellverband bzw. der gesamte Organismus "besitzen" bzw. konstruieren das, was ein Beobachter desselben Universums dann als Erkenntnis bezeichnet. Jede Zelle eines Lebewesens hat aufgrund ihrer phylogenetischen Spezialisierung zwar "mehr" oder "weniger" (das ist aber stets das Urteil eines Beobachters, etwa eines Wissenschaftlers!) mit unserer landläufigen Vorstellung von Erkenntnis zu tun, das Prinzip des Lebendigen ist aber "letzt"lich immer im Hinblick auf Erkenntnisproduktion zu betrachten. Jede lebende Zelle hat noch immer diese Funktion, auch wenn sie eingebettet in einen komplexen Zellverband sich in bezug auf den Inhalt ihres (beobachtbaren!) Erkenntnisgewinns vermutlich sehr spezialisiert hat, und man wohl einer Zelle des Kopfhaars nur auf komplizierten Umwegen eine "erkenntnisgewinnende" Funktion zuschreiben kann. Das ändert aber nichts daran, daß sie insgesamt etwas mit dem Gesamtprozeß des Wissenserwerbes bzw. -produzierens eines Individuums zu tun hat. Wie im Abschnitt über die Wahrnehmungstheorie des Radikalen Konstruktivismus gezeigt wurde, findet Erkenntnis im weitesten Sinne sicherlich nicht ausschließlich zentral statt, sondern im wesentlichen oft schon an der "Peripherie". In bezug auf die kortikale Entwicklung ist es sicherlich richtig, von einer gewaltigen "Entspezialisierung" beim Menschen zu sprechen, doch ist diese nur auf dem Hintergrund einer vermutlich wesentlich längeren evolutionären Spezialisierung, die die Entwicklung des Lebens im Kosmos genommen hat, "möglich" geworden.

OESER & SEITELBERGER (1988, S. 104) bemühen die, heute oft gering geachtete, "Weisheit des Leibes", um die unabschätzbare lebenslange "Einverleibungs-" und Informationsarbeit des Lebendigen zu kennzeichnen, die das Fundament der "Einzigartigkeit und umfassenden kosmomorphen Einheit der Individualexistenz" bildet. Damit ist im wesentlichen das gemeint, was ich an anderer Stelle unter Berufung auf Gedanken von ARISTOTELES und MACH mit dem "Prinzip der klugen Überlegung" angesprochen habe, denn "Klugheit" ist m.E. jene Bezeichnung, die den Menschen noch in ganzheitlicher Sicht bewahrt, ihn nicht zu einer abstrakt-wissenschaftlichen, rational-ratiomorphen Karikatur "verzeichnet" und damit das verliert, worauf es ankommt. Der Begriff der "Klugheit" soll auch auf eine mögliche Abgrenzung einer radikal konstruktivistischen Psychologie von der Evolutionären Erkenntnistheorie hinweisen, denn letztere fragt, wie "Vernunft" in der Stammesgeschichte entstehen konnte (vgl. WUKETITS 1987, S. 38). Für die Psychologie stellt sich nämlich "zusätzlich" die Frage, wie die Unvernunft, d.h., die Irrationalität, in unsere kognitiv-rationale Welt kam. Möglicherweise ist die Irrationalität nicht nur das Komplement zur Rationalität, sondern in metaphorischem Sinne zugleich Oberbegriff aller menschlichen Erkenntnis. "Klug sein" und "vernünftig sein" spannen einen ähnlichen Raum auf wie die beiden Paradigmen dieser Arbeit. Der Vernünftige fragt nach dem Machbaren, der Kluge eher nach dem Machenswerten, auch wenn letzteres oft nicht rational begründbar ist. Vielleicht kann eine solche Sicht auch eine "Begründung" für die Freiheit des Menschen und des Wissenschaftlers sein, indem die Zwangsjacke der Vernunft klugerweise ein wenig gelockert wird.

Vielleicht sind solche Diskussionen "Haarspaltereien", und es strapaziert vermutlich allzusehr unsere wissenschaftlich-realistische Weltsicht, wenn man einer Haarzelle zu"schreibt", daß diese Wissen um ihre Schutzfunktion gegenüber Kälte besitzt, die sie nun im Verein mit anderen Haarzellen "realisiert". Es sollte damit aber über"zeichnend"-illustrierend auf einen grundsätzlich umfassenderen "Wissensbegriff" abgezielt werden, wie er mir aber für einen "radikal" konstruktivistischen Ansatz notwendig erscheint, und alle "Ebenen" in gleicher Weise umfaßt, wie sie OESER & SEITELBERGER (1988, S. 180) in einem synchronen Stufenmodell analytisch "auseinanderlegen". Das einzige Argument für eine Unterscheidung verschiedener Modelle und Formen von Wissen ist m.E. allein ein "wissenschaftlich-heuristisches", welches natürlich auch für mich akzeptabel ist. Nach dem in dieser Arbeit vertretenen Standpunkt ist aber "Bedeutung", d.h., die Entscheidung für eine Perspektive, immer nur an einem "Subjekt" bzw. dessen Struktur festzumachen, d.h. aber auch, daß eine "Einigung" darauf nur aufgrund eines intentionalen Kon"senses" zweier Individuen möglich ist, nicht aber aufgrund irgendwelcher natürlicher oder ontologischer "Tatsachen", wie uns das naturwissenschaftliche Paradigma "weis"-"machen" will. Die "letztgültige" Entscheidung für die richtige Perspektive ist nun einmal nicht prognostizierbar, denn Prognosen sind im Rahmen einer Evolutionstheorie bekanntlich nicht nur äußerst problematisch, sondern vermutlich auch un"möglich". Aber das sind vielleicht "wirklich" nur "Wortspaltereien". Vielleicht ist die Hemisphären"spaltung" wie überhaupt unsere Gehirnstruktur ein "Abbild" unserer vermutlich manchmal auch "sinnlosen" Suche nach Wissen und Erkenntnis, eine Metapher für das letztlich unlösbare "cartesianische Problem" (BIERI 1987, S. 126f). So faszinierend auch die Untersuchungen an split-brain-Patienten sein mögen (vgl. MATURANA & VARELA 1987), so viel sie uns auch über die Funktionsweise des Gehirns verraten mögen, so lösen sie doch nicht die Bedrohung des Solipsismus, sondern verdoppeln ihn eher. Um damit leben zu können, bedarf es vermutlich auch anderer Veranstaltungen als Wissenschaft. Wie die Geschichte der Wissenschaften zeigt, gibt es Wissenschaft im heutigen Sinne erst seit wenigen Jahrhunderten, und auch diese nur in ganz wenigen Sozietäten, während andere Erkenntnisformen wie etwa Kunst, Religion und Mythos wesentlich weiter verbreitet sind. Vermutlich sind letztere für das Überleben unserer Art "sinn"voller oder "bedeutungs"voller.

RUTTE (1987, S. 157f) schreibt in seiner Diskussion des Realismus, daß wir Menschen entweder schon immer Realisten gewesen sind, wenn wir es aber nicht sind, es niemals auf vernünftige Weise werden können. Natürlich nicht, denn um Realist zu werden, bedarf es einer gehörigen Portion Irrationalität. Das zu zeigen, war ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit. Daher ist auch OESER & SEITELBERGER (1988, S. 190) uneingeschränkt zuzustimmen, daß nicht das Ich dem Gehirn gehört, wie es die Dualisten POPPER und ECCLES behaupten, sondern es sich genau umgekehrt verhält: "Das 'Ich' gehört seinem Gehirn als bloß funktionale Realität an. Was bleibt ist lediglich die Hoffnung, daß das individuelle Selbstbewußtsein als substantielle Funktion, einmal entstanden, auch immer 'bleibend' ist in irgendeinem, mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr argumentativ feststellbaren Sinn". Mit dem zweiten Satz schließen die Autoren ihre Arbeit. Und - positiv bewertend - möchte ich ergänzend nur auf die oben bemühte Märchenmetapher hinweisen, denn dieser Satz ist aus dieser Perspektive vielleicht eine der möglichen wissenschaftlichen Übersetzungen des wohl bekanntesten Märchenschlusses …

Der Kreis schließt sich - soll sich schließen

 

 

aus:
Stangl, Werner (1989).
Das neue Paradigma der Psychologie.
Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus.
Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn.
ISBN: 3-528-06342-4

 

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